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Rechenschwäche und -Therapie

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1. Was ist eine Rechenschwäche und woran erkennt man sie ?

Definition der Rechenstörung (F8 1.2 nach  ICD-10):
„Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fähigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden.“

Anders formuliert: Rechenschwache Kinder sind genauso intelligent wie alle anderen Kinder. Eine Dyskalkulie ist keine allgemeine Lernschwäche (Lernbehinderung),
sondern eine Teilleistungsschwäche*, vergleichbar der Legasthenie. Der Grund für eine Rechenstörung liegt weder an fehlender Intelligenz noch an schlechtem Mathematikunterricht. 

Eine eindeutige Ursache für eine Rechenstörung gibt es noch nicht.
Dafür aber einige Hypothesen, die ich im Folgenden vorstellen möchte.

Es ist möglich, dass das abstrakte Vorstellungsvermögen einiger Sechsjähriger durch eine kognitive Entwicklungsverzögerung – deren Ursache ganz unterschiedlicher Art sein kann (gesundheitlich wie eine schwere eigene Krankheit oder auch lebensgeschichtlich, wie z.B. ein Umzug der Familie oder eine Trennung der Eltern in der Kleinkindzeit oder gerade um die Zeit der Einschulung herum, die an sich schon für jedes Kind ein einschneidendes Erlebnis ist) – einfach noch nicht so weit ausgebildet ist, dass sie im Alter von 6 – 7 Jahren diese abstrakten Zahlvorstellungen entwickeln und mental damit umgehen könnten.

Einige Wissenschaftler behaupten, eine Rechenschwäche sei genetisch-neurobiologisch bedingtwobei es sich um eine Störung der Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen der Kinder handele, die eine Beeinträchtigung des Lernens zur Folge hätte.

Es wird von Vererbung der Störung gesprochen. Und in der Tat bin ich bereits öfters Familien mit mehreren rechenschwachen Mitgliedern begegnet. Andererseits haben einige rechenschwache Kinder aber auch mathematisch besonders begabte Eltern, die beruflich mit Zahlen zu tun haben.
Hier kann eine seelische Blockade vorliegen, wenn die Kinder unter Druck (auch unbewusst) gesetzt wurden, besonders gut rechnen zu lernen. Druck erzeugt immer Gegendruck.

Es wurde auch beobachtet, dass viele rechenschwache Kinder in den ersten Jahren oft mehrere schwere Mittelohrentzündungen durchgemacht hatten und/oder wenig gekrabbelt sind und dadurch weniger Raumerfahrungen gemacht haben.

Auch bei  Pflege- und Adoptivkindern tritt diese Schwäche öfter auf, ebenso bei Kindern aus binationalen Ehendie zwei- oder gar dreisprachig aufwachsen.

Bei einigen Kindern könnte aber auch eine zu frühe Einschulung eine Rolle spielen. Vielleicht sind sie schon sehr wach, für das abstrakte Denken fehlt ihnen aber noch die nötige Reife. Sie sind oft erst später dazu fähig; dann haben sie aber den Anschluss an ihre Klasse bereits verloren und brauchen nun dringend eine individuelle, gezielte Hilfe, um das Versäumte nachzuholen, sonst verstehen sie später gar nichts mehr.

Da in der Mathematik alles auf einem festen Zahlbegriff* aufbaut, der die Grundlage allen Rechnens bildet, und in diesem Schulfach eine Einsicht auf der anderen aufbaut, können diese Kinder spätere Einsichten nicht haben, wenn ihnen – bildlich gesprochen – sozusagen „der Boden unter den Füßen fehlt“. Dieser Boden wird in der Dyskalkulietherapie aufbereitet und festgeklopft, sodass sie sicher darauf stehen können.

Was auch immer die Ursache einer Rechenschwäche gewesen ist, es fest steht, dass die betroffenen Kinder Hilfe brauchen. Je früher eine Rechenschwäche erkannt und die entsprechenden Fördermaßnahmen eingeleitet werden, desto eher kann sie überwunden werden.

Deshalb ist es wichtig, eine Rechenschwäche überhaupt zu erkennen. 
Dabei können Lehrer und Eltern eine gute Vorarbeit leisten, indem
sie auf die folgenden typischen Anzeichen für Dyskalkulie achten

Welche Anzeichen deuten auf eine Rechenschwäche hin ?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein Kind rechenschwach ist, wenn 

  • es immer vorwärts oder rückwärts zählt statt zu rechnen (immer seine
    Finger benutzt oder innerlich sehr lange „nachzudenken“ scheint)
  • beim Rückwärtszählen Probleme hat, besonders bei Zehnerübergängen
  • es in Bezug auf das Fach Mathematik ständig „abblockt“
  • es immer überdimensional viel Zeit zum Erledigen seiner Mathematik-Hausaufgaben benötigt und es deshalb oft Konflikteauch häufig Tränen gibt oder das Kind gar „ausrastet“
  • ihm trotz intensiven, täglichen Übens selbst einfache Rechenaufgaben nicht sicher gelingen
  • es sich häufig oder regelmäßig um Eins verrechnet (eigentlich „verzählt“)
  • es Ergebnisse auswendig lernt
  • es immer wieder Zahlen „verdreht“ (46 statt 64 sagt)
  • es mathematische Rechenzeichen verwechselt oder nicht beachtet
  • es Rechenoperationen (Plus, Minus, Mal, Geteilt) immer wieder verwechselt
  • es sich Zahlzerlegungen (im Zahlenraum bis 10) nicht vorstellen kann 
  • es analoge Aufgaben nicht erkennt (nachdem die Aufgabe 4 + 3 = 7  berechnet wurde, muss die Aufgabe 24 + 3  = ?  neu errechnet werden)
  • es Zehner und Einer verwechselt (z. B.: 23 + 4 = 63  oder  35 + 30 = 38),  weil es die Bedeutung der Stellenwerte nicht verstanden hat (s. Foto unten)
  • es offensichtlich falsche Lösungen wie 21 – 19 = 18 nicht erkennt (weil 1 – 9 nicht möglich ist, rechnen die Kinder einfach rein mechanisch 9 – 1) (s. Foto u.)
  • es Textaufgaben nicht versteht, nicht in Rechenoperationen „übersetzen“ und deshalb auch nicht lösen kann
  • ihm das Lesen der Uhr und der Umgang mit Geld schwer fällt,
    weshalb es beiden Aufgabenbereichen möglichst aus dem Weg geht

Sollte ein Kind mehrere dieser Anzeichen aufweisen und ihm auch vermehrtes Üben bisher nichts gebracht haben, ist es angezeigt, es auf Rechenschwäche testen zu lassen. Denn einem rechenschwachen Kind können Nachhilfe oder Förderunterricht in der Regel nicht wirklich helfen. Warum, führe ich im nächsten Abschnitt genauer aus.

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Bei diesem Beispiel (halbschriftliche Addition + Zehnerüberschreitung) ist nicht nur ein Unverständnis der Stellenwerte ersichtlich, sondern das Kind hat auch noch keinerlei sichere Vorstellung von der Größe der Zahlen 15 und 26. Deshalb ist es über das Ergebnis  71 gar nicht erstaunt und rechnet erst mal weiter. Erst die 9 bringt es ins Nachdenken, denn eigentlich sind ja nur noch 6 Einer da.

 
2. Warum hilft vieles Üben oder Nachhilfe nicht ?

a)  Der aktuelle Schulstoff kann rechenschwachen Kindern nicht erklärt werden
In der Mathe-Nachhilfe wird meist versucht, den Kindern den aktuellen Schulstoff zu erklären. Die Absicht ist, dass die Kinder möglichst schnell das Unverstandene nachholen. Dies ist auch im schulischen Förderunterricht das vorrangige Ziel.
Dabei wird in der Regel nicht überprüft, ob das Kind überhaupt schon über
klare Zahlvorstellungen im Zahlenraum bis zehn verfügt. 

Da dies bei rechenschwachen Kindern nicht der Fall ist, müssen sämtliche
mathematischen Erklärungen ins Leere laufen:
Wer sich Zahlen innerlich nicht als abstrakte Mengen vorstellen kann,
kann Rechenaufgaben, die ja aus Zahlen und Rechenoperationen* bestehen,
weder verstehen, noch sich innerlich vorstellen und daher auch nicht lösen.

Auch das zur Verfügung gestellte Hilfsmaterial hilft den Kindern nicht wirklich. Es bleibt eine Krücke, und die Kinder sollen ja ohne Krücken gehen lernen. Die Kinder bleiben so am konkreten Material haften und brauchen keine inneren Vorstellungen zu entwickeln. Sie zählen weiter an den Klötzchen ab, kommen auch zu richtigen Ergebnissen und alle glauben, sie hätten nun alles verstanden.

b)  Zählen ist nicht Rechnen
Beim Addieren und Subtrahieren gelingt es den Kindern oft durch schnelles Zählen vorzutäuschen, sie hätten gerechnet. Schließlich haben sie das lange genug geübt! Es nützt ihnen aber nichts! Denn auch wenn sie im kleinen Zahlenraum durch Zählen zu richtigen Ergebnissen kommen, haben sie im Grunde gar nichts dabei verstanden und müssen beim Rechnen mit größeren Zahlen unweigerlich scheitern.

Vorwärts- und Rückwärtszählen hat nichts mit Rechnen zu tun!
Deshalb können Erklärungen nur kurzzeitig und auch nur scheinbar wirksam sein. Weil ihnen die Grundlage zum Rechnen – das Denken in Zahlen – fehlt, ist ein wirkliches Begreifen nicht möglich und am nächsten Tag alles wieder vergessen.

So habe ich selbst erlebt, dass eine Fünftklässlerin nach zwei Jahren Nachhilfe zu mir in die Therapie kam und die Aufgabe 8 – 6 = ? nur durch Rückwärtszählen lösen konnte. 
Trotz jahrelanger Nachhilfe hatte sie keinen Zahlbegriff entwickelt!
Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie die ganze Zeit unbemerkt gezählt hat.

3. Was ist der Unterschied zwischen Rechentherapie und Mathe-Nachhilfe ?

a)  In der Rechentherapie wird an den Grundlagen gearbeitet
Eine Dyskalkulie-Therapie ist etwas ganz anderes als Nachhilfe in Mathematik!
Während in der Nachhilfe am aktuellen Schulstoff gearbeitet wird, wird in der
Rechentherapie als erstes am Zahlbegriff, am Begriff der Gleichung und am
Operationsverständnis
also an der Grundlagen für alles weitere Rechnen, gearbeitet,
da den Kindern ja die elementarsten Vorstellungen und Einsichten fehlen.

Es geht nicht darum, Löcher zu stopfen, es geht darum, die „Socke neu zu stricken“.
Deshalb muss noch einmal ganz an den Anfang zurückgegangen werden, weil
dort die Ursache für das Unverständnis liegt. Erst wenn ein grundlegendes
Verständnis da ist, können Erklärungen überhaupt verstanden werden.

b)  Die Kinder brauchen eine individuelle und einfühlsame Hilfe
Während Nachhilfe durchaus auch in Kleingruppen stattfinden kann – sofern
der Lernstand der Kinder in etwa gleich ist – sollte eine Rechentherapie immer
als Einzeltherapie stattfinden. Das Kind braucht eine vertrauensvolle Beziehung
zum Therapeuten, um seine Abneigung und seine Angst Zahlen gegenüber über-
winden zu können und sich dem Rechnen überhaupt wieder zuwenden zu wollen.

Rechenschwache Kinder sind meist äußerst sensibel, leicht zu verunsichern,
geben sehr schnell auf und 
sollten deshalb nicht in eine Konkurrenzsituation
mit anderen Kindern gebracht werden. Außerdem hat jedes Kind oft bereits
unterschiedliche falsche mathematische Denkmuster und Strategien entwickelt,
die herausgefunden, besprochen und individuell korrigiert werden müssen.

c)  Gespräche und Spiele stärken das Selbstwertgefühl der Kinder
Neben der Förderung der Rechenfähigkeit, die im Vordergrund steht, geht
es in der Therapie auch um die Stärkung des kindlichen Selbstwertgefühls,
das bereits so stark gelitten hat, dass die Kinder an sich selbst zweifeln.

Um das Selbstbewusstsein des Kindes zu fördern und das Kind emotional zu
stabilisieren, beinhaltet das therapeutische Setting u. a. auch gesprächs- und
spieltherapeutische Momente. In diesen bekommt das Kind die Gelegenheit,
über persönliche Probleme 
oder aktuelle Vorkommnisse zu sprechen, die es
gerade bedrücken und deren Lösung für das Kind gerade viel wichtiger ist.

Erst nachdem dieses Problem besprochen wurde, ist es für das Kind wieder
möglich, sich
mathematischen Aufgaben erneut zuwenden und sich wieder
auf das Rechnen konzentrieren zu können. Diese positive Wendung erzeugen
auch die gezielt eingesetzten Rechenspiele, die besonders wichtig werden, wenn

die Motivation zum Rechnen nachlässt oder die Kinder „Ermunterung“ brauchen.

4. Wie wirkt sich eine Rechenschwäche auf Kinder aus ?

a)  Rechenschwache Kinder halten sich für dumm
Regelmäßige negative Erlebnisse im Mathematikunterricht, das Gefühl
der Kinder 
ständig zu versagen, schlechte Noten in Klassenarbeiten sowie
die Tatsache, dass sie ihre 
Mathe-Hausaufgaben nur mit Hilfe ihrer Eltern
erledigen können, kränken und belasten die Kinder sehr.

Ihr Selbstwertgefühl sinkt auf den Nullpunkt, sie halten sich für dumm
oder denken, dass  etwas mit ihnen nicht stimme.  Die Kinder ziehen
sich dann oft zurück, sind sehr traurig oder werden schnell wütend.

Falls Sie derartige Verhaltensänderungen bei Ihrem Kind beobachten,
sollten Sie hellhörig werden und nach dem Grund suchen.

b) Ängste verursachen körperliche Symptome und Konzentrationsprobleme
Die Kinder klagen über Kopf- oder Bauchschmerzen oder es ist ihnen morgens übel,
wenn sie an eine bevorstehende Mathearbeit oder ans Rechnen denken.
Manche wollen auch gar nicht mehr zur Schule gehen oder schwänzen die Schule,
so sehr schämen sie sich wegen ihrer Unfähigkeit mit Zahlen umzugehen.

Oft lassen ihre Leistungen auch in anderen Schulfächern nach. Ihr Denken ist so
sehr von Unsicherheit und Ängsten überlagert, dass ihre Aufmerksamkeits-  und
Konzentrationsfähigkeit generell nachlässt (siehe Schema für Teufelskreis unten).

Um von ihrem Dilemma abzulenken, werden manche Kinder zum Klassenclown
oder auf andere Art und Weise verhaltensauffällig. Trotz alledem strengen sich
die Kinder immer wieder an – nur um immer wieder scheitern zu müssen.

c)  Täglicher Streit um die Hausaufgaben schadet der Eltern-Kind-Beziehung
Da die Kinder mit Zahlen nichts anfangen können, wehren sie sich gegen die
an sie gestellten rechnerischen Anforderungen, verweigern sich oft ganz.
Es hat den Anschein, als seien sie bockig oder wollten sich nur nicht anstrengen.
Dabei sind sie mit den Hausaufgaben total überfordert, weil sie nichts verstehen.
Die Eltern wiederum verstehen nicht, warum ihre Kinder mit ihren Erklärungs-
versuchen nichts anfangen können. Oft sind alle Beteiligten schon ganz verzweifelt!

Die Eltern-Kind-Beziehung leidet sehr darunter. Wenn es um Mathematik geht,
gibt es oft Tränen und Streit. Das Kind und seine Eltern fühlen sich unverstanden
und sind deswegen unglücklich, weil sie keinen Ausweg aus dem Dilemma sehen. 

Schließlich kann Mathe zum Schreckgespenst der ganzen Familie werden.
Nicht selten werden die Kinder auch noch von ihren Mitschülern manchmal
sogar von ihren Geschwistern – wegen ihrer Unfähigkeit zu rechnen gehänselt.
Im Grunde können sie ihren Eltern oder Lehrern auch gar nicht sagen, was sie
eigentlich nicht verstehen, weil sie die Ursache dafür ja selbst nicht kennen.

d)  Rechenschwäche kann zu einer seelischen Gefährdung werden
Da ist es nicht verwunderlich, dass es tatsächlich zu einer seelischen Gefährdung
kommen kann. Die Abneigung Zahlen gegenüber kann sich weiter verstärken und
allmählich zu einer regelrechten Mathe-Angst entwickeln, ja sogar zu einer
generellen Schulunlust führen. 

Soweit sollte es wirklich nicht kommen, denn dann ist ja nicht nur seine gesamte
Schullaufbahn gefährdet, sondern das Kind leidet so sehr unter dieser Situation,
dass seine seelische Gesundheit und damit es selbst gefährdet ist.

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5. Wie stellt man eine Rechenschwäche fest ?

In einem Elterngespräch wird zunächst über die bisherige Entwicklung und die Besonderheiten des jeweiligen Kindes gesprochen, eventuell bereits vorliegende Tests oder Untersuchungsberichte werden eingesehen. Anschließend steht das Kind im Mittelpunkt. 

Es ist wichtig, dass das Kind weiß, dass es nicht geprüft und beurteilt wird wie in der Schule, sondern dass es darum geht festzustellen, wo es rechnerisch steht. Wenn das Kind es wünscht, darf selbstverständlich die Mutter oder der Vater während der Testung anwesend sein. Einige
Kinder brauchen diese Sicherheit, um sich auf die Situation einlassen zu können.

Die Lernstandsanalyse wird mit einem qualitativen Rechentest durchgeführt.
Es geht darum festzustellen, wie das Kind rechnerisch vorgeht und wie weit sein Zahl- und Operationsverständnis bereits entwickelt ist. Dafür wird die „Methode des lauten Denkens“ angewendet: Das Kind gibt während des Rechnens
Auskunft darüber, wie es rechnerisch oder „zählerisch“ vorgeht, um die Aufgabe zu lösen.
Dazu muss das Kind natürlich zuerst eine gewisses Zutrauen zum Tester haben.

Durch die Art und Weise, wie das Kind mit dem Material umgeht und rechnet, wird deutlich, auf welchem Rechenniveau sich das Kind befindet, ob es sich tatsächlich um eine Rechenschwäche handelt oder ob nur einige Teilgebiete der Mathematik nicht verstanden wurden. Das ist ein großer Unterschied.

Oft bringt die Erkenntnis, dass ein Kind rechenschwach ist, bereits eine große Erleichterung für Eltern und Kind (lesen sie dazu bitte den 1. Brief einer Mutter unter Erfahrungen von Eltern mit der Therapie), denn nun ist ja der Grund für seine Probleme gefunden, es gibt eine Möglichkeit der Hilfe und Hoffnung auf die Überwindung dieser Schwäche durch die Therapie.

6. Was ist das Besondere an einer Rechentherapie ?

a)  Individuelle Förderung im Einzelsetting
Eine Rechentherapie ist keine standardisierte Methode, sondern wird
speziell an die Individualität des jeweiligen Kindes angepasst. Zunächst

geht es um den Beziehungsaufbau zum Kind und darum, ihm zu vermitteln,
dass es so angenommen wird, wie es ist. Das ist ganz wichtig, hat es doch in
seinem bisherigen Leben schon oft Zurückweisung erfahren, wenn es sich
„dumm“ anstellte. Hier ist die Situation völlig anders.

Es erfährt, dass von ihm keine Rechenleistungen erwartet werden,
dass es nicht unter Druck gesetzt und vor allem nicht bewertet wird.
Dies allein ist schon eine völlig neue Erfahrung.

Die Therapeutin ist keine Lehrerin, sondern seine Vertraute, die das
Kind bei seinen ersten „Gehversuchen 
mit Zahlen“ – und die ganze
Therapie hindurch – einfühlsam und mit viel Geduld begleitet,
die es alles fragen kann und die dem Kind ganz zur Verfügung steht.

b) In der Rechentherapie wird an den Grundlagen gearbeitet
Nachdem in der Testung die Lernausgangslage eines Kindes festgestellt
wurde, setzt die Therapie genau an diesem Punkt an. In der Regel ist es
der Zahlenraum bis 10, manchmal auch erst der Zahlenraum bis 4!

Da den Kindern die innere, abstrakte Mengenvorstellung von Zahlen fehlt,
wird besonders zu Beginn viel mit Veranschaulichungsmitteln gearbeitet.

Um sicher zu gehen, dass das Kind auch alle Lernschritte wirklich verstanden
hat, wird es immer wieder dazu aufgefordert, seine Rechenschritte mit Hilfe
des Materials (Steckwürfel oder Zehnerstangen) darzustellen und auch zu
begründen. Einen kleinen Eindruck vermittelt das Video „Zwei Minuten
Rechentherapie“. Sie finden es im Menü direkt unter Home

c)  Mitarbeit und Verständnis der Eltern sind wichtig für die Therapie
Nach jeder Stunde findet ein kurzes Gespräch mit den Eltern statt, in dem 
über das aktuelle Thema der Stunde und über die Fortschritte des Kindes 
gesprochen wird und auf Übungsmöglichkeiten für zuhause hingewiesen wird.
Die Eltern sollten immer auf dem Laufenden sein, was die Therapie angeht.

Für zuhause empfehle ich oft Rechenspiele, die den Kindern helfen, ihre
Zahlvorstellungen und Rechenfähigkeiten auf angenehme Art zu festigen.
Diese Spiele sind sehr wichtig für die Therapie, weil

  • sie den Kindern Spaß machen
  • das Gelernte wiederholt und gefestigt wird, und endlich auch einmal
  • positive Erlebnisse mit Zahlen gemeinsam mit den Eltern erfahren werden.

Die Kinder können zeigen, was sie bereits gelernt haben. Das macht sie stolz,
und die Eltern erleben hautnah mit, welche Fortschritte ihr Kind bereits
rechnerisch gemacht hat und sollten diese auch gebührend bewundern.

Wichtig ist dabei, das Kind nie unter Leistungsdruck zu setzen und möglichst
locker mit dem Spielmaterial umzugehen. Denn sonst wird ja wieder Angst erzeugt.

Ein sehr bewährtes Rechenspiel ist das Klappbrett, das Sie sich unten auf der Seite
Video ansehen können. Es wird von den Kindern auch gern gespielt.

d)  In der Rechentherapie geht es um einen Neuaufbau der Arithmetik
Die gesamte Mathematik muss von Grund auf neu erarbeitet werden.
Dabei handelt es sich um einen hierarchisch aufgebauten Lernprozess,
bei dem jeder Schritt auf dem vorhergehenden aufbaut und es sehr wichtig
ist, dass jeder Schritt ganz verstanden und kein Lernschritt ausgelassen wird!
Daher wird das mathematische Wissen in sehr kleinen Schritten vermittelt.

Diese Vorgehensweise kann am besten mit der Konstruktion eines Hauses
verglichen werden, wo ja auch zunächst mit dem Keller und erst anschließend
mit dem Erdgeschoss begonnen wird, bevor mit den oberen Stockwerken
weitergebaut werden kann. Wird auch nur ein Zwischenschritt vergessen,
so droht das gesamte Mathe-Gebäude wieder einzustürzen bzw. das Kind
kann die folgenden Erklärungen nicht verstehen, weil ihm dafür die
nötigen Vorkenntnisse fehlen. 

Dieses kleinschrittige Vorgehen braucht natürlich Zeit.
Besonders im ersten Therapiejahr erfordert es von allen Beteiligten sehr
viel Geduld, was sich 
aber später positiv bemerkbar macht: Es kommt immer
wieder vor, dass die ehemaligen „rechenschwachen Kinder“ später so sicher
im Stoff sind, dass sie sogar ihren 
Klassenkameraden etwas erklären können,
was diese nicht verstanden haben.
Darauf sind sie dann natürlich besonders stolz und erzählen mir später davon.

e)  Die Kinder erfahren eine emotionale Stabilisierung durch die Therapie
Alle Erfolgserlebnisse stärken das Selbstbewusstsein der Kinder.
Besonders bei rechenschwachen Kindern sind sie außerordentlich wichtig.
Darauf sollten auch Lehrer*innen bei ihren Kommentaren achten und die
Kinder immer ermutigen. Sätze wie: „Du musst dich noch mehr anstrengen“,
die ich schon unter Klassenarbeiten mit Entsetzen gelesen habe, sind bei
„unseren“, in ihrem Selbstbewusstsein erschütterten Kindern, kontraproduktiv.

Man sollte nie vergessen, dass der Umgang mit Zahlen bei rechen-
schwachen 
Kindern sehr oft im höchsten Maße angstbesetzt ist.
In der Therapie müssen daher besonders zu Anfang nicht selten
große Lernblockaden überwunden werden.

Dieses Überwinden von Ängsten erfordert von den Kindern sehr viel Mut, der
aber erst einmal aufgebracht werden muss. Haben sie diesen aber gefunden, wirkt
sich dies immer positiv auf ihr Selbstvertrauen und ihr Lernverhalten generell aus.

Regelmäßig stellen Eltern verwundert fest, dass ihre Kinder im Laufe 
der Therapie auch in anderen Schulfächern bessere Leistungen zeigen.
Das liegt sicher daran, dass sie insgesamt selbstbewusster geworden sind,
und es dadurch wieder wagen, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen. Sie
haben auch keine Angst mehr davor, eventuell einmal etwas Falsches zu sagen,
weil ihr Selbstbild inzwischen so stabil ist, dass sie auch das ertragen könnten.

So bekommen die Kinder allmählich eine große Sicherheit, was ihr
mathematisches Verständnis und ihre Rechenfähigkeiten angeht.

Aber nicht nur im Rechnen sind sie jetzt sicher, sondern sie sind im
Ganzen nicht mehr so leicht zu verunsichern, wie ich immer wieder von
Eltern zu hören bekomme. Auch bei erneut auftretenden Schwierigkeiten 
sind sie nun zuversichtlich, dass sie diese auch selbst bewältigen können.
(Vgl. Sie dazu den 3. Beitrag bei Erfahrungen von Eltern mit der Therapie)

Sie können sich selbst – ihre Schwächen, aber auch ihre Stärken – besser
einschätzen, und sie wissen jetzt, dass sie sich selbst vertrauen können.

Denn sie waren ja nie dumm – sie hatten nur ein Handycap, das jetzt überwunden ist.

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